Joe

von Michael Stegmann

Die roten Leuchtziffern des Radioweckers zeigten ein Uhr einundzwanzig als ich durch das energische Summen des Telefons aus dem Schlaf gerissen wurde. Wer zum Teufel konnte das nur sein? Widerwillig schälte ich mich aus dem Bett. Ich hoffte nur, daß die Kinder nicht wach geworden waren.
„Wer…stört uns da mitten in der Nacht, Schatz?“
„Keine Ahnung, Jill, aber ich werde es gleich wissen. Schlaf ruhig weiter. Ist bestimmt bloß eine falsche Verbindung. Ich schau dann auch gleich mal nach den Kindern.“
„Ist gut, Schatz“, murmelte Jill, drehte sich um und schlief weiter.
Außer dem Telefonsummen war es still im Haus. Tom und Jenny schienen einen tieferen Schlaf zu haben als ich. „Mike Henderson…wer stört?“, murmelte ich etwas bärbeißig in den Hörer.
„Die automatische Benachrichtigungsroutine der MediTec Corporation wurde aktiviert…Code Gamma… Die automatische Benachrichtigungsr…“
„Wer ist…?“
Eine synthetische Stimme am anderen Ende der Leitung wiederholte emotionslos ihren Text. Langsam wurde mir klar, daß es kein lebendiger Gesprächspartner, sondern nur die Audionachricht unserer Objekt- und Systemüberwachung war. Ich unterbrach die Verbindung und versuchte mir die Benachrichtigungscodes ins Gedächtnis zu rufen. Jedenfalls stand Gamma nicht für „Unbefugtes Eindringen in die Anlage“ - das wußte ich noch von letztem Jahr. Eine radikale Gruppe namens „Die unabhängige Ethikkommission“, die sich gegen gentechnische Eingriffe in das menschliche Erbmaterial einsetzte, hatte vergeblich versucht in den Labortrakt einzudringen. SECY, unser Sicherheitssystem, streng genommen heißt es SECSYS III, hatte sie in die Flucht geschlagen bevor die örtlichen Sicherheitskräfte auftauchten. Das System der dritten Generation arbeitete vollkommen autark. Es verfügte über eine Vielzahl von passiven und aktiven Schutzvorkehrungen, die ein unbefugtes Eindringen nahezu unmöglich machten. Außerdem überwachte es die Funktionen der Kryostasisanlage und die der Neuroparalyseröhren.
Professor Richard Milton, der Gründer der MediTec Corporation, hatte beim Bau dieser Anlage sehr viel Wert auf Unabhängigkeit in jeder Beziehung gelegt. Alle technischen Einrichtungen arbeiteten deshalb mit minimalem Personaleinsatz und größtmöglichem Sicherheitsniveau. Wachpersonal war nicht mehr notwendig. Einige, der Früherkennungs- und Verteidigungsalgorhytmen waren sogar von Joe, dem Sohn von Professor Milton, selbst entwickelt worden. Joe war wirklich ein wahres Genie auf dem Gebiet der Neuroinformatik. Er litt seit seiner Geburt an Multiples Sklerose, einer unheilbaren Krankheit, die allmählich sein gesamtes Nervensystem zerstörte. Die Tatsache, daß er seit seinem fünften Lebensjahr im Rollstuhl saß, hatte ihn nicht davon abgehalten, mit siebzehn sein Diplom in Mathematik und Informatik zu machen. Drei Jahre später bekam er den Doktortitel in Physik.
Seine überragende Intelligenz, seine Intuition und Zielstrebigkeit machten ihn zu etwas ganz Besonderem. Ich mochte ihn und ich arbeitete gern mit ihm zusammen. Er war für mich der lebende Beweis, daß nicht nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist stecken konnte. Und was so ein Geist zu bewerkstelligen im Stande war, das hatte er schon mehrfach unter Beweis gestellt.
In den letzten Monaten hatte sich Joe’s Gesundheitszustand erheblich verschlechtert. Trotzdem oder gerade deshalb arbeitete er verbissen an seinem aktuellen Projekt mit dem Namen CAMT. Die Abkürzung stand für Computer Aided Mind Transplantation, was soviel hieß wie „Computerunterstützte Gedächtnistransplantation“. Joe hatte sich zwar mit dem Urteil der Ärzte abgefunden aber nicht mit seinem Schicksal. Er wollte, daß sein Verstand in irgendeiner Form weiter existierte. Daran arbeitete er Tag und Nacht. Viel Zeit würde ihm nicht mehr bleiben.
Ich vermutete ihn also im Labor, wo er in den letzten Tagen fast nur noch anzutreffen war.
Professor Milton, der mit seinem Sohn zusammen auf dem MediTec-Gelände wohnte, war zur Zeit auf einer dringlichen Zusammenkunft der Ethikkommission in Europa.
Also versuchte ich es gleich mit Joe’s Mobil-Nr., in der Hoffnung, ihn zu erreichen. Leider hatte ich keinen Erfolg, darum wählte ich O’Brian’s Nummer. Er war ein Kollege von mir und mußte ebenfalls von SECY benachrichtigt worden sein.
„O’Brian hier!“, klang es verrauscht aus dem Hörer.
„Hallo David, hier ist Mike Henderson.“
„Ah, Michael, Sie sind also auch von SECY aus dem Bett gescheucht worden.“
„Allerdings. Haben Sie eine Ahnung,, was los ist?“
„Keine Ahnung, Mike. Nachdem ich vergeblich versucht habe, Joe zu erreichen, habe ich mich gleich auf den Weg gemacht. Verdammt dunkel hier draußen in der Pampa. Wird Zeit, daß die Chilenen hier mal ein paar Lampen aufstellen.“ „Was ist Benachrichtigungscode Gamma?“
„Es ist der manuelle Alarm. Irgend jemand muß ihn dort ausgelöst haben.“ „Sieht so aus, als würden wir uns gleich treffen. Ich schätze, daß ich in ca. einer halben Stunde eintreffen werde. „O.k. Mike, ich werde vor Ihnen dort sein und schon mal nach dem Rechten sehen. Vielleicht hat Joe den Zentralrechner ja nur ein bißchen geärgert.“
„Ich hoffe, Sie haben Recht, David. Also dann bis gleich.“
Ich warf noch schnell einen Blick ins Kinderzimmer, bevor ich mich von Jill verabschiedete.
„Pass‘ auf dich auf“, murmelte sie im Halbschlaf.
„Mach ich doch immer. Ich freue mich schon aufs Wochenendfrühstück, Liebes“, flüsterte ich und gab ihr einen Kuß, bevor ich mich auf den Weg machte.
Kurze Zeit später saß ich bereits in unseren allradgetriebenen Chevy und verließ das Grundstück so leise es nur ging. O’Brian hatte Recht. Wir hatten Neumond und es war stockdunkel. Das spärliche Streulicht von San Felipe wurde schon nach wenigen Kilometern zu einem schwachen Schimmer am Horizont. Die einzigen Geräusche, die mich begleiteten, waren das Brummen des Motors und der ständige Steinschlag gegen das Unterbodenblech des Chevys. Die Nebenstrecke in die Berge war äußerst steinig und kurvenreich. Es gab zwar auch eine neue Asphaltstraße, die bis zum Haupteingang der MediTec Corporation führte, aber ich entschloß mich für die Abkürzung.
Seit gut drei Jahren benutzte ich nun diese Strecke. Sie brachte mir eine viertel Stunde weniger Fahrzeit und die schönere Aussicht noch dazu. Jetzt, in der Dunkelheit, sah ich natürlich nichts von dem atemberaubenden Ausblick ins Tal von San Felipe oder den schroffen Berggipfeln der Anden. Jill mochte es nicht, wenn ich diese Strecke fuhr. Ich hatte ohnehin das Gefühl, daß sie sich in letzter Zeit immer mehr Sorgen um unsere Zukunft machte. Als vor vier Jahren die Entscheidung fiel, daß die erste Forschungs- und Produktionsanlage der MTC in Südamerika gebaut werden sollte, benötigte man einen Kryostasisspezialisten. Bis dahin hatte ich für ein Forschungsprojekt gearbeitet, welches sich mit Langzeitraumflügen befaßte. Meine Aufgabe bestand darin, die Biokryostasis so weit zu optimieren, daß Menschen die extrem lange Zeit des Weltraumfluges im Kälteschlaf ohne nennenswerte Alterung überdauern konnten.
Leider wurden Projekte, die sich mit Langzeitraumflügen befaßten, aus Kostengründen gestrichen. So kam ich zur MediTec. Für Jill und die Kinder hieß das, alleine in den Staaten zurückzubleiben oder mit mir in ein fremdes Land zu gehen. Wir entschieden uns dafür, die Familie nicht auseinander zu reißen. Außerdem sollte der Auslandsaufenthalt nur befristet sein. Richard versicherte uns, daß innerhalb weniger Jahre die gesetzlichen Grundlagen für einen weltweiten Ausbau der Forschungs- und Produktionsstädten geschaffen würden. Er selbst saß in einer der Gremien zur Erweiterung der Bioethik-Konvention aus dem Jahre 1999. Der Inhalt dieser Konvention besagte zwar, daß die weiterführende Erforschung des menschlichen Erbgutes nicht behindert werden durfte, sofern ein human medizinischer Nutzen nachweisbar war, doch waren die Vorbehalte gegenüber einer Erweiterung, wie sie für die Lösung der dringlichsten Probleme unserer Menschheit von Nöten gewesen wären, noch zu groß. Aber dennoch bedurften die rapide angestiegene Zahl von Erbkrankheiten, der Einfluß der sich verschlechternde Lebensbedingungen auf dem menschlichen Organismus, sowie der stetig angestiegene Bedarf an Spenderorganen eines raschen Eingreifens durch die Wissenschaft.
Mittelfristig war das nur in einem Land zu realisieren, wo keine Widerstände gegenüber innovativen Technologien zu erwarten war. Also gingen wir nach Chile. Richard mußte nicht lange auf zahlungswillige Sponsoren warten. Im Jahre 2002 wurde die MediTec Corporation gegründet und schon ein Jahr später wurde die Anlage in Betrieb genommen. Alle Systeme arbeiteten von Anfang an zufriedenstellend. Unser Team war klein aber äußerst effizient. Richard hatte ein Gespür dafür, die richtigen Leute zusammen zu bringen. David O’Brian war einer davon. Ende der 80er Jahre konzertierte er seine Anstrengung, wie viele andere Genanalytiker auch, auf das Entschlüsseln des menschlichen Genoms. Nicht ohne Erfolg, denn dank seiner genialen Methodik war man bereits zur Jahrtausendwende am Ziel. Zu diesem Zeitpunkt gelang Professor Milton ebenfalls ein Durchbruch, als er zum ersten Mal einen Menschen erfolgreich klonte. Es war die Zeit gekommen beide Entdeckungen zu kombinieren, um sie im Dienste der Menschheit nutzbar zu machen. Mit der neuen Anlage der MediTec Corporation wurden hierfür die Voraussetzungen geschaffen. z.B. kombinierten wir die Züchtung genetisch verbesserter Spenderklone mit einer ausgereiften Bio-Kryostasis-Technologie. Ein Spenderklon war nur dann von Nutzen, wenn er zu jedem Zeitpunkt optimal konditioniert war, um unseren Klienten, also den Patienten von morgen, die notwendigen Organe- oder Gliedmaßen zur Verfügung zu stellen. Um dies zu gewährleisten mußten zunächst zwei SK’s mit Standardoptimierungen gezüchtet und via genetischer Wachstumsbeschleunigung auf ein theoretisches Lebensalter von 25 bis 30 Jahren gebracht werden. Der primäre Spenderklon wurde dann in eine stabile Bio-Kryostasis versetzt, in der er um den Faktor zehn langsamer alterte als der Klienten selbst. Der Sekundärklon wurde mit einer Neuroparalyseröhre in einem künstlichen Koma gehalten und auf eine Parallelalterung entsprechend der des Klienten eingestellt. Benötigte der Klient den Ersatz seines durch einen Unfall zerstörten Körperteils, so stand ihm nun der gleichaltrige Sekundärklon zur Verfügung. Im Falle eines geschädigten Organs wurde der Primärklon aus der Kryostasis geholt und das entsprechende Organ entfernt. Abstoßungsreaktionen in Folge nicht übereinstimmender Gewebetypisierungen des Empfängerkörpers zum Spender gehörten endgültig der Vergangenheit an. Eine optimale Versorgung unserer Klienten mit allen lebenserhaltenden Organen, Knochenmark und Blut war somit gewährleistet. Wer über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügte, konnte sogar mehrere Backup-Klone „in Auftrag geben“.
Richard bemühte sich ständig die Zweifler dieser Verfahren von der Unbedenklichkeit und vor allem von dem humanmedizinischen Nutzen zu überzeugen. Er versuchte immer wieder die Bedenken der Internationalen Ethikkommission zu zerstreuen, die davon überzeugt war, daß es sich hierbei um eine moderne Art der Versklavung von beseeltem menschlichem Leben handele.
Die Meisten von ihnen vergaßen, daß die SK’s zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit hatten, ein Bewußtsein zu entwickeln, und sie würden es durch die Isolation der Kryostasis oder der Neuroparalyse auch nie bekommen. Außerdem wurde den Angehörigen von Unfallopfer die durchaus schwierige Entscheidung einer Freigabe des Körpers zur Organspende abgenommen.
Bei allen Widerständen, die sich gegen unsere Arbeit aufgebaut hatte, war der Zulauf von Klienten verschiedenster Nationen enorm hoch. Die Nachfrage würde noch weiter ansteigen, wenn Joe mit dem Projekt CAMT, der Transplantation eines Menschlichen Bewußtseins, Erfolg hätte. Man mußte sich das Ganze so vorstellen, als würde man den Dateninhalt einer Festplatte von einem defekten Rechner auf einen neuen übertragen. In Bezug auf den Menschen hieß das, alle Erinnerungen, bewußte wie unbewußte, alle Erfahrungen, alles Erlernte wurde in die identische Neuronalmatrix eines Sekundärspenderklons übertragen. Bei Erfolgreicher Transplantation konnte somit das neue Leben des Patienten beginnen. Die kühle Nachtluft, die durch das geöffnete Seitenfenster strömte, ließen meine Müdigkeit allmählich verschwinden. Ich machte mir Sorgen um Joe.

Fortsetzung folgt ;-)

Zuletzt geändert: 2012/09/27 00:18